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Vom Vorüberziehen der Städte (German Writing)

Vom Vorüberziehen der Städte (German)
Irgendwo zwischen dem Nirgendwo, und der Ewigkeit
[2012 - 2020]
The Mighty Rio Grande (TWDY)
An Orten, an denen ich mich zuhause fühle, auf langen Nachtfahrten zwischen dem einen und anderen, lasse ich Teile von mir zurück. Ein Tausch, der mit Erinnerungen einhergeht. Ich werde sie spüren, diese Lücken und Leere; und als Fernweh empfinden. Was ist Fernweh, wenn nicht die Sehnsucht nach mir selbst. An jenen anderen, an den ich mich erinnere; nicht wo, sondern wer ich einmal war.
[2018/11/06]
I | Zuhause (Einsicht)

Ich bin in meinem Leben tage- und nächtelang durchgefahren. Landschaften, Sprachen und ganze Länder zogen an mir vorüber. Ganz gleich, wie schnell ich auch fuhr, wurde ich dabei doch stets von der Zeit überholt.

Während ich auf diese Weise in der Ferne unterwegs war, mal in diesem oder jenem Jahr doch stets alleine, und dabei schweigsam hinaus auf das Leben sah, schien ich eine Welt zu verstehen, die still und etwas verborgen unter allem anderen liegt. Ich weiß nicht, ob es vielleicht einfach nur eine andere, eine von vielen war, aber je mehr ich sie ahnte, diese Schattenwelt, desto mehr wollte ich in ihr leben. Ich wollte sie nicht aufdecken, und ihr damit alles nehmen, sondern darin aufgehen, heimlich in ihr verschwinden. Ich wollte alles andere, das mich bis hierhin begleitet hatte und mir zu einer Last geworden war, von mir stoßen. Ich wollte einen Ort gefunden haben, an dem ich genau der sein durfte, zu dem ich in meinem Inneren längst geworden war.

Und auch wenn ich von ganzem Herzen nichts anderes wollte, glaubte ich immer, es wäre mir nicht gelungen. Überhaupt schien ich nie auch nur irgendetwas im Leben aufrichtig berühren, und festhalten zu können. Aber vielleicht war ich allem ausgerechnet auf meiner Suche am nächsten gekommen. Dass ich, wenn ich jemals zeitlos und damit Gegenwart war, es wohl auf eben jenen Reisen gewesen bin, in denen ich nach der Unmöglichkeit suchte. Ein wenig verloren, irgendwo im Nirgendwo unterwegs, immer zwischen dem einen und anderen. Und darin, so scheint mir, wenn ich mich heute daran erinnere, die Ewigkeit einer ganzen Welt.
II | Reise (Abschied)

- Aufbruch -
Erst spät in der Nacht breche ich auf, schließe die Haustüre sachte hinter mir, das Haus liegt jetzt im Dunkeln. Ich steige wortlos ein und überprüfe in Gedanken alles, was ich in den vorangegangenen Tagen eingepackt und sorgsam verstaut habe. Nur wenige Minuten später liegt meine alte Heimat hinter mir. Nach Jahren, ein weiterer Aufbruch. Ein jeder davon, gleich wie sehr sie sich häuften, fühlte sich wie ein altes und neues Leben zugleich an. Nicht selten auch wie ein Abschied. Vielleicht bin ich nie wirklich erwachsen, aber doch älter geworden, rede ich mir zumindest ein. Eine Seele, die schon immer ein wenig unter dem Unvermögen litt, sich seiner selbst bewusst sein zu müssen. Eine, die dabei oft ins Stolpern geriet, wie das Herz eines alten Mannes. Auch wenn ich nun unterwegs bin, wird es eine Weile dauern, bis ich mich selbst zurücklassen und darin ankommen kann, erneut heimatlos zu sein. Aufzubrechen, mich von etwas zu verabschieden, ist mir immer schon schwergefallen. Vielleicht, weil ich stets das Gefühl hatte, etwas Bestimmtes zurückzulassen und fürchtete, es könnte mir für immer fernbleiben. Mein Inneres schien sich, gleich wohin ich ging, nie im selben Maße zu wandeln, wie es die Welt vor meinen Augen tat. Diese Distanz aus dem, was ich sah, und dem, der ich im Inneren noch war, hat mich nie so richtig losgelassen. Vielleicht geschieht das, wenn es uns schneller in die Ferne trägt, als die Gedanken folgen können. Dass es etwas dauert, bis sie uns wieder eingeholt haben; auch wenn unbekannt bleibt, wie ihnen das wieder und wieder gelingt. Nicht alle, die in die Ferne reisen, seien verloren, heißt es; aber vielleicht sind es die, die vor sich selbst zu fliehen versuchen. Nicht, dass der Wunsch nicht zu verstehen wäre, aber daran zu glauben, dass es gelingen mag, das kann ich nicht.

- Morgendämmerung -
Ich bin weitergefahren, haltlos gefahren, bis es mich nach Stunden stiller Nachtfahrt in der Morgendämmerung einem weiteren Sonnenaufgang entgegenträgt. Hinter den Fenstern erwachen aus schwarzer Nacht nach und nach mehr die Farben als ein neuer Tag. In zahlreichen Wäldern, unweit der Strecke, erstes Vogelgezwitscher; und mit etwas Glück fühle ich auch ein stilles Guten Morgen in der frischen Morgenluft. Vor meinen Augen vereinzelt Nebel, der geräuschlos von spiegelglatten Seen und Flüssen aufsteigt. Nebel, der scheinbar arglos, und wenn es nur für Sekunden ist, ganze Landschaften umspielt, sie verhüllt und schon kurz darauf wieder einem etwaigen Betrachter preisgibt. Abseits des taunassen Asphalts ruhen in geringer Entfernung hier und da in die Jahre gekommene Höfe. Höfe längst vergangener Zeit, deren besten Tage in weiter Ferne liegen oder vielleicht nie existierten. Die Dächer eingebrochen, der Putz erschöpft von den Wänden herabgefallen, die großen Gärten, seit längerem sich selbst und damit der Natur überlassen, verwildert. Doch selten habe ich Schöneres gesehen, wie dieses Zusammenspiel aus Vergangenem und dem Heute, dem Verfall und der Ahnung von dem, was folgen könnte. Auch hatte ich mich, ein ums andere Mal, gefragt, wie es wohl gewesen wäre, in einem solchen Anwesen ein Leben verbracht zu haben. Aber angehalten, mit meinen Fingern über den verfallenen Gartenzaun gestrichen, einen Blick in den Brunnen oder die ehemalige Küche hineingeworfen, habe ich nie. Habe nie versucht, es mir tatsächlich vorzustellen, wollte es viel lieber als einen Traum weiter bei mir tragen. Auch dieses Mal folge ich weiter der Straße, die sich beständig und in nie endender Abwechslung aus Wäldern und Feldern, Weilern und Städten entlang von Flüssen, tief eingeschnittenen Tälern und scheinbar endlosen Ebenen schlängelt. Und ich hoffe inständig, dass irgendetwas von alldem, das ich hier sehe und fühle, in mir verbleiben und mich, der Straßen gleich, irgendwo hinführen wird. Ganz egal, ob an einen bestimmten Ort oder zu dem Menschen, der ich später einmal sein werde, was in Anbetracht der Dinge vielleicht sogar unwesentlich ist.

In einem Anflug von Melancholie frage ich mich, ob es überhaupt Tag ist, wenn ich vor meinen Augen zwar Farben und Lichter wahrnehme, in mir, und hinter meinen Augen, aber noch immer eine Spur von Dunkelheit lauert. Es sind flüchtige Gedanken, die mir immer ein wenig fehlten, wenn ich einmal eine Weile nicht unterwegs, stattdessen viel zu lange an ein und demselben Ort verblieben war. Gedanken, die ich dann vermisste, bis mir das Atmen schwerfiel.

- Wiedererkennen -
Auch wenn es im Laufe eines Lebens nahezu unbegrenzt viele Eindrücken sind, die sich anhäufen, erscheint mir doch vieles von dem, was ich nun sehe, gleichzeitig fremd wie vage bekannt. Darunter Dörfer, deren Namen auf oftmals fast gänzlich zugewachsenen Schildern geschrieben steht. Namen, die ich im Vorbeifahren zwar mit etwas Mühe entziffern kann, im nächsten Augenblick aber schon wieder vergessen glaube. Sie sagen mir nichts; die Handvoll Häuser darin dagegen schon. Auch das eine oder andere Geschäft darin, längst aufgegeben, die Türen und Fenster mit Brettern vernagelt, nur die Reste einer Markise oder an der Fassade ein verwitterter Schriftzug, die vermuten lassen, dass hier einmal etwas angeboten wurde, jemand hinein- und hinausgegangen war. Dem Verfall nun endgültig preisgegeben, wussten sie, weder heute noch damals, dem Wandel der Zeit etwas zu entgegnen. Doch, mit etwas Glück, inmitten davon auch eine jener winzigen, etwas im Untergeschoss verborgenen Backstuben, die überdauerten und vor denen ich besonders frühmorgens gerne hielt, mir im ersten Licht der Dämmerung meine Schuhe überstreifte und für einen Moment darin verschwand. Das Läuten der Türglocke, Wärme, der Duft von frischem Brot, manchmal das erste Lächeln eines Tages. Selten sprachen wir dieselbe Sprache und schienen es für diesen Moment doch zu tun, waren doch sie es, die, ungeachtet der frühen Stunde, als einzige gemeinsam mit mir schon lange wach und auf den Beinen waren. Sie, die Brot für Brot formten und vielleicht seit Generationen in den Ofen steckten, und ich, der, seit es mich gab, durch die Nacht und darauf zu fuhr. Kleine Inseln des Lichts, dazwischen der lange Schatten der Nacht, und des Einsamen, so war es mir vorgekommen. Und immer dann, wenn ich im Gesehenen etwas wiederzuerkennen glaube, erklingt sanft ein Ton in mir. Ein wenig wie ein längst vergessen geglaubtes Lied aus Kindheitstagen, das uns, gleich wie viele Jahre vergangen sein mögen, doch spielend leicht an ferne Zeiten erinnert. Vieles streife ich auch nur für einen Atemzug mit meinem Blick, bevor es, erst im Seitenfenster, dann im Rückspiegel, verschwindet. Anderes aber geht hinein in mich, so als sei es zuhause in mir, vielleicht schon lange gewesen. Ein Meer voller Erinnerungen, Begegnungen mit einem früheren Ich. Eines, das man vielleicht vergessen hatte oder dessen man einst, gleich aus welchem Grund, müßig geworden war, es abgelegt hatte wie ein altes Kleidungsstück, zurückgelassen wie einen Fremden an der Straße. Fremd mag man sich ein wenig geworden sein, doch ein Zweifel daran, dass man sich gleichwohl erkennt, einst gemeinsam oder gar ein und derselbe war, besteht nicht.

- Innehalten -
Stunden später halte ich einmal am Straßenrand an, vertrete mir ein wenig die Beine und lasse meinen Blick über das, was auch immer dann vor meinen Augen liegt, schweifen. Ich halte inne, still und etwas melancholisch, und wage ebenso einen kurzen Blick in mich selbst hinein. Ich bin mir jetzt der Schönheit bewusst, die darin liegen kann, vergessen zu haben, wohin man eigentlich unterwegs ist. Vergessen zu haben, dass man überhaupt irgendwohin unterwegs gewesen ist und nicht einfach schon immer genau so dahingelebt hat. Ihn, diesen Moment, irgendwo in ein unsichtbares Fach zu schieben, dort zu verstauen in der vagen Vermutung, dass es einmal gut wäre ihn zu haben. Eine flüchtige Erinnerung, Fragment davon, wer man alles einmal gewesen ist. Kurz darauf ohne große Worte wieder einzusteigen, still weiterzufahren, sich aber doch im Inneren bewusst zu sein, dass man gerade etwas erlebt hat, das unendlich wertvoll ist und einem keiner mehr nehmen kann. Weil es still ist, und weil es eigen ist. Überhaupt sind es vielleicht jene Momente, in denen in uns Erinnerungen entstehen, ganz gleich ob bewusst oder unerkannt. Erinnerungen, die manchmal über die Jahre immer weiter und weiter in uns anwachsen. Erinnerungen wie Berge. Erinnerungen, die, wenn wir nicht aufpassen, irgendwann so groß sind, dass wir ihnen selbst nicht mehr gerecht werden können. Dass sie plötzlich scheinbar unbezwingbar vor uns aufragen und wir nichts als Unglauben empfinden, müssen wir nun doch einsehen, dass auch wir Grenzen haben.

Gleich, ob an den Orten, an denen wir einmal zuhause waren, auf Nachtfahrten, zwischen dem einen und anderen, oder den Menschen, die uns einmal nahestanden, lassen wir Teile von uns zurück. Es ist ein Tausch, der unausweichlich mit Erinnerungen einhergeht. Später im Leben werden wir sie spüren, diese scheinbare Lücke und Leere, und als Fernweh empfinden. Aber was ist Fernweh, wenn nicht Sehnsucht nach uns selbst? An jenen anderen, an den wir uns erinnern; nicht wo, sondern wer wir einmal waren. An wie viele verschiedene Orte es uns auch trug, eines war immer dasselbe geblieben, war nie von unserer Seite gewichen.

- Rast -
Hin und wieder, etwas abseits der Straße, liegen Rastplätze, an denen ich gerne unter großen Bäumen erschöpft ein wenig Schlaf fand. Mal Stille, mal prasselnder Regen oder das leise Rascheln der Blätter im Wind um mich herum. Ein wenig wie fernes Meeresrauschen hatte das oft für mich geklungen. Vereinzelt wanderte das Licht vorbeiziehender Wagen durch mein Zuhause. Kurze Momente der Aufmerksamkeit. Wenn ich nach draußen blickte, sah ich hinter jedem meiner Fenster ferne Lichter, gleich ob von Städten, oder den Sternen. An manchen Tagen, hoch oben, hing gar ein Mond, der Schatten warf. Ich verbrachte Abend für Abend allein an meiner Seite. Jede Empfindung, jeden Gedanken hatte ich vor mir, und nur vor mir. Wenn ich mich manchmal doch nach etwas sehnte, dann nicht selten nach Einsamkeit. Oft habe ich mich, in den letzten wachen Minuten vor dem Einschlafen, gefragt, ob wir uns nicht alles, das wir erleben, fühlen und denken, beständig selbst erzählen. Dass wir jeden Moment unseres Lebens insgeheim in der Erwartung erleben, ihn später einmal mit jemandem teilen zu können. Als würde nicht nur er, sondern auch wir selbst, erst durch das Erzählen wahr, und gewiss werden. Bis dahin, gleich wie viel Zeit vergehen mag, bliebe alles unbestimmt, ohne Vergangenheit und Zukunft, alles und nichts zugleich. Was würde das über uns sagen, als Mensch, alleine wie wir sind? Und wie würden wir denken und fühlen, hätten wir vor uns selbst eine andere Sprache erlernt? Vielleicht eine, in der es kein Wort für Einsamkeit gäbe; oder eine, die von nichts anderem handeln würde. Würden wir alles, das ganze Leben, nicht vielleicht ganz anders verstehen? Wären wir tatsächlich noch dieselben? Und was ist mit alldem, das ungeteilt bleibt, das wir nicht und niemals haben leben können? Manchmal fürchte ich, dass wir erzählen und doch stumm bleiben.

- Nachtfahrten -
Wieder ist es Abend und schließlich Nacht geworden. Die Sonne versteckte sich immer häufiger hinter Hügeln und Wäldern, blitzte nur noch vereinzelt in den Baumkronen am Wegesrand hervor und färbte mit letzter Kraft Stoppelfelder von hier bis zum Horizont golden. Dann verstummten die Farben am Himmel endgültig und gingen in ein trauriges Blaugrau über. Im Vorbeifahren begleiten mich verschiedene Gerüche, die zu mir ins Innere dringen. Eine frisch gemähte Wiese, modriger Waldesgeruch, ein fernes Krautfeuer. Dann, spät in der Nacht, mein Blick vom Vorüberziehen der Städte so müde, dass er nichts mehr hält. Manchmal so müde, dass ich oft längst an jedem Rastplatz vorbeigefahren war, ehe ich sie auch nur bemerkte. Ungeachtet dessen fahre ich weiter und weiter, habe schon vor langer Zeit aufgehört mir Sorgen zu machen, denn auch Müdigkeit vergeht, ein wenig wie die Sehnsucht. Ich fahre, scheinbar wie von unsichtbarer Hand gelenkt, in die Nacht, und all das Unbekannte hinein. Hinein in mich selbst, und eine Welt, die still und verborgen darin liegt. Berührungslos und unerkannt immerzu vorbei an nun verlassenen Dorfplätzen, an denen Stunden zuvor noch rege ein Markt im Gange war, Kirchen im orangenen Nachtlicht der Straßenlaternen, verschlafenen Gehöfte am Fuße schneebedeckter Berge, aufgebrachtes Hundegebell, das mich bis zur nächsten Kurve begleitet. Vor dunkelblauem Nachthimmel leuchten, gleich wie spät es ist, vereinzelt Fenster, verstecken dahinter unzählige, mir auf immer unbekannte Leben. Eine eigenartige Welt, die vielleicht nur bis zum letzten Licht am Horizont reicht, niemals weiter. Manchmal, mit Musik und dem Vollmond an meiner Seite, liegt alles so verlassen vor mir, so lange habe ich niemanden mehr gesehen, dass ich mich wundere, ob ich überhaupt noch wach, oder längst in einen Traum geglitten bin. Immer dann steht sie scheinbar still, die Zeit. Und da ist eine Spur von Intimität, bin ich doch jetzt ganz alleine mit ihr, der Nacht. Vielleicht ist es die einzige Vertrautheit, die ich erfahren habe.

Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht verwundert bin, dass ein Mensch so still und unbekannt dahinleben kann. Von anderen unbeachtet, ohne jede Berührung. Wenn wir alleine sind, ist es unmöglich mit Gewissheit feststellen zu können, ob wir uns wirklich an etwas erinnern oder nur glauben, es zu tun. Fehlt uns doch zwangsläufig der Vergleich, die Rücksprache mit anderen. Während wir uns hindurchbewegen, gleich ob durch das Leben, die Zeit oder ein fernes Land, wandert das Gesehene ebenso durch uns selbst hindurch. Wir hinterlassen, und wenn es nur für einen Augenblick ist, in Menschen, den Straßen und Wegen dieser Landschaften, oder schlicht der Zeit, ein unsichtbares Netz. Währenddessen wandert alles ebenso in uns hinein und geht dort, an irgendeinem Ort unseres Inneren, immer weiter und weiter. Manchmal, wenn wir in Aufruhr sind, glauben wir, dass nichts mehr dort stehenbleibt, wo es das einst noch tat. Während das passiert und wir dahinreisen, ziehen nicht selten hinter unseren Augen gleichermaßen all die anderen, bereits bekannten Momente vorüber. Erinnerungen, die kommen und gehen, ein wenig wie Menschen. Nichts davon kann man wirklich sehen aber leugnen würden wir es nicht. Erlebtes und Erträumtes, Gedachtes und Erhofftes fließen rege in- und aneinander. Aus allem wird mit den Jahren ein- und derselbe Fluss. Ein kleines Universum, dessen trauriger König und zugleich einziger Bewohner wir selbst sind. Und immer dann, wenn wir, vielleicht in einem Anflug von Nostalgie oder später Reue, auf der Suche nach dem, was einmal war, innehalten, und vorsichtig aus uns herausblicken, vernehmen wir doch nichts anderes, als das leere Echo unseres eigenen Horchens. Denn wer sonst, wenn nicht wir selbst, hätte schon Zeuge sein können? Wer sonst, wenn nicht wir selbst, hätte schon an unserer Seite sein können? Aber wenn wir alleine sind, ist die Wahrheit vielleicht gar nicht so wichtig. Vielleicht ist das ganze Leben ein einziges Déjà vu. Dass es unsere Seele selbst ist, die von allem unbeirrt eine Vergangenheit zu erschaffen weiß. Auf dass wir etwas wiederkennen, und daran glauben können tatsächlich ein Leben gehabt zu haben. Eines, wie das der Anderen, bei dem man sich heute nicht fragen müsste, ob man denn überhaupt gelebt und nicht all die Jahre voller Sehnsucht von dem, das niemals sein wird, geträumt hatte.

- In der Ferne, das Meer -
In einigen Stunden wird vor mir, anfangs noch ein wenig in der Ferne versteckt, dann zunehmend größer und schließlich nicht zu übersehen und bis zum Horizont reichend, das Meer liegen. Nichts ist so, wie das Meer am Ende einer langen Reise. Ich werde aussteigen und barfuß durch den Sand gehen, bis die ersten Wellen, vielleicht sanft, vielleicht kraftvoll, meine Füße umspielen. Wenn es dagegen stürmt, werde ich mich vielleicht auch einfach nur in den Wind stellen, hinaussehen und die salzige Meeresluft in meinem Gesicht spüren. Und wenn ich sein werde, wer ich sein will, wird es gut sein; und wenn nicht, werde ich warten und weiter nach mir selbst suchen müssen. Tage, Wochen oder Tausende von Kilometern weit. Was macht das schon für einen Unterschied.
III | Ankunft (Sehnsucht)

Sehnsüchte sind Erinnerungen, Einsamkeit der Schatten den sie werfen.
An Gelebtes wie Ungelebtes, Erhofftes wie Erträumtes.
[2018/10/30]

Manchmal, wenn ich, gleich wo ich gerade lebte, für einen Moment stehenblieb und mich ein wenig wunderte wie ich überhaupt hierher gelangt war, schien mir, dass ich gar nicht mit Bestimmtheit hätte sagen können, ob ich mit meinen Gedanken und Gefühlen nun wirklich hier, oder nicht eigentlich ganz wo anders wäre. Es fühlte sich an, als hätte ich mich mit den Jahren immer weiter auf unzählige Augenblicke, Orte und Jahreszeiten meines Daseins verteilt. Vielleicht war ich, während ich unterwegs und auf der Suche war, ganz still und unbemerkt verbrannt, war in mir selbst und mit jedem Kilometer auch ein wenig in der Welt verlorengegangen. Von all den Eindrücken blieben in meiner Sehnsucht oft nur jene Stunden, in denen ich dahingefahren und in der Welt unterwegs gewesen war. Je älter ich wurde, desto einsamer fühlte ich mich. Je verlorener ich mich fühlte, desto stärker erinnerte ich mich an die Vergangenheit und suchte, meist vergeblich, Trost in Erinnerungen. Ich wusste von Freunden und Bekannten, Familien und ihren Kindern, und der Liebe zwischen ihnen. Doch das, was blieb, das woran ich mich erinnerte, war Einsamkeit. Ich erinnerte mich an das, was an mir vorübergezogen war, während ich schweigend hinaus auf die Leben der Anderen gesehen hatte. Ich hatte sie beneidet, konnte oder wollte aber nicht sein wie sie. Etwas hatte mich gehindert.

Ist es abwegig zu glauben, dass wir uns weniger in der Welt umherbewegen, als in jenem unbestimmten Raum, der uns selbst, und all unsere verschiedenen Wesen, weit mehr als bloße Rollen und Gesichter, beherbergt? Sind wir nicht immerzu auf der Suche nach uns selbst; und dem, von dem wir glauben, dass wir es fühlen müssten? Manches, manchmal auch nahezu alles, von dem, was und wie wir einmal waren, längst fortgetragen; vom Wind zerstreut, von Menschen mitgenommen, von der Zeit ausradiert. Anderes verstaut, versteckt, vergraben oder schlicht in Vergessenheit geraten. Auf immer unklar, was davon noch einmal zum Vorschein kommen und gelebt, vielleicht sogar geteilt und miteinander erlebt werden wird. Ein wenig wie die Jahreszeiten, das Wetter oder das Sonnenlicht. Licht, das mal hier, mal dorthin fällt. Einzelnes aufleuchten lässt, anderes ungehört im Schatten vergangener Tage verstummt. Ein Strand im Wandel der Gezeiten, mit jeder Welle, jeder Flut ein wenig anders und doch stets ein bekanntes Gesicht dahinter. Immer derselbe; und doch nie gleich. Bei alledem ungewiss, ob nun etwas vor- oder zurückliegt, schon bald oder doch nie geschehen wird. Eine Distanz unbekannter Größe, fern von Maß und Einheit, die sich sogar der Zeit entzieht. Das alles aber sind wir.

Pessoa schien der Ansicht, dass es keinen großen Sinn mache über das zu schreiben, was dem Leser bekannt sei; und noch viel weniger über das, was er nicht kenne. Das eine sei banal, schließlich wäre es vertraut; das Unbekannte dagegen würde ohnehin nie ein anderer verstehen können. Ich gehe weiter, ich weiß nicht einmal selbst, was mir all meine Gedanken und Erinnerungen sagen. Dass sie irgendetwas bedeuten, bedeuten müssen, kann ich nur vermuten. Sicher, ich erinnere mich an das, was einmal war. Zumindest glaube ich das. Aber was heißt das eigentlich, sich zu erinnern? In meinem anderen Leben gehe ich manchmal dahin, lebe, nicht selten monatelang, und am Ende verbleibt mir doch nichts davon. Was ist dann, mit all der Zeit, und uns? Nicht selten habe ich weniger Angst, nicht zu fühlen oder zu erinnern, sondern davor, nicht mehr genau so zu fühlen, dass ich mich auch später einmal daran erinnern kann. In unserer Erinnerung verlieren Gefühle ihre Farben, ein wenig wie die Nacht sie dem Tag nimmt. Das, was verbleibt, sind leere Worte. Vergrabene Träume, längst vergessene Versprechen. Eine Vergangenheit, die es nie wirklich gab; und eine Zukunft, die es vermutlich ebenso wenig geben wird. Wenn ich mich heute erinnere, erinnere ich mich daran alleine gewesen zu sein. Alles andere, wenn es denn je etwas anderes gegeben hatte, könnte ebenso gut gestern, oder vor hundert Jahren gewesen sein. Es ist mir heute fern, so vage, als wäre es gar nie erst gewesen. Längst glaube ich, dass Vergangenheit weder Zeit, noch Eigentum kennt. Sie fühlt sich niemandem zugehörig; und wenn sie einmal bleibt, ist das meist mehr Fluch, als Segen.

Heute spüre ich, an jedem Tag, die Einsamkeit aller Tage. Wenn in alldem, dem Reisen und Unterwegssein, überhaupt etwas verborgen war, dann vielleicht Sehnsucht. Sehnsucht danach der Einzige zu sein. Sehnsucht danach wenigstens einen Moment lang zeitlos zu sein, allein und fern in der Nacht. Und darin, einst, eine ganze Welt vor Augen.

Ich bin einsam gewesen in meinem Leben.

2020/01/31
Vom Vorüberziehen der Städte (German Writing)
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